Das Graduiertenkolleg „Practicing Place“ widmet sich der interdisziplinären Erforschung von Ort und Verortung und rückt die Analyse der sozialen Praktiken und epistemischen Konfigurationen von Verortungen in den Mittelpunkt. Damit folgt das Graduiertenkolleg einem Forschungsdesiderat, das auf der Beobachtung basiert, dass gerade Orte in einer globalisierten, vernetzten Welt in auffallendem Maße ebenso bedeutsam wie problematisch geworden sind und damit eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Konzept Ort notwendig werden lassen, die in der aktuellen und jüngeren akademischen Landschaft zugunsten einer Fokussierung auf den Raum vernachlässigt wird. Die leitende Forschungsidee ist dabei die Konzeptualisierung von Orten als dynamisch und in steter Herausbildung und Transformation begriffen. Diese Auffassung von Verortung steht monolithischen Vorstellungen von Ort, etwa in Form einer unabänderlichen Heimat mit der sie zumeist begleitenden Heimattümelei oder fixen lebensweltlichen Ursprungs- und Herkunftsszenarien, diametral entgegen. Vielmehr erforschen die Kollegiatinnen und Kollegiaten die vielfältigen und komplexen sozialen, politischen, kulturellen und medialen Praktiken, die jede Verortung immer wieder neu hervorbringen, transformieren und dabei immer als vorläufig, strittig und fortlaufenden Änderungen unterliegend markieren. Anders gesagt: Orte und Verortungen können nur in diesem Bezug auf die Praktiken dynamisch und als hervorgebracht gedacht, erfahren und beschrieben werden. Aus diesem Grund haben wir uns für den programmatischen Übertitel „practicing place“ entschieden. Da wir uns analytisch und methodisch auf den turn to practice in allen Kultur- und Medienwissenschaften und auf die kultursoziologische Praxistheorie beziehen, könnte man in Anlehnung daran unser Projekt auch als „turn to practicing place and placing practice“ beschreiben. Die das Kolleg tragende Fragestellung ist weniger an der Frage „Wo und was ist ein Ort?“ interessiert, die eher traditionellen Zugängen entspricht, sondern sie stellt die „Wie“-Frage nach den Verortungsmechanismen und -prozessen ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses.

Wir bearbeiten mit unserem Ansatz auch in theoretischer und konzeptioneller Hinsicht ein wichtiges Forschungsdesiderat, denn Ziel des Kollegs ist es, in innovativer Weise die Verbindung und gegenseitige Fruchtbarmachung von Praxistheorie, -soziologie und -philosophie, Humangeographie und Literatur- und Kulturwissenschaften zu erproben. Auch wenn der Gegenstand Ort/Verortung diese verschiedenen Disziplinen in je eigener methodischer Weise beschäftigen mag, so steht eine umfassende methodisch-theoretische Verschränkung in einem interdisziplinären Sinn noch aus. Für eine solche interdisziplinäre Zusammenarbeit bietet der Standort Eichstätt, eine kleine Universität mit dezidiert geisteswissenschaftlichem Schwerpunkt, ein hervorragendes Umfeld. In Eichstätt wird ein forschungsorientierter und kreativer Dialog zwischen den stärker empirisch arbeitenden Disziplinen der Soziologie und Geographie und den diskurshistorisch orientierten Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaften allein schon aufgrund der Ortsgegebenheiten forciert. Diese besondere Interdisziplinarität kommt in der spezifischen Zusammensetzung des Teams der am Projekt beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Ausdruck und kann in der Orts- und Raumforschung auch international als Alleinstellungsmerkmal gelten.

Ziel des Kollegs ist die gemeinsame Exploration und Erschließung eines sowohl inhaltlichen wie konzeptionellen Forschungsdesiderates, d.h. die interdisziplinäre Untersuchung von Praktiken der Verortung und die wechselseitige Fruchtbarmachung von sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung. Dass damit eine weitergehende Theorieentwicklung möglich wird, die neben den material culture studies und network studies auch Subjektivierungstheorien, Raumtheorie und -ästhetik einbezieht, wird im Forschungsprogramm detailliert erläutert. Die Arbeit des Kollegs zielt nicht darauf ab, ein theoretisch-methodisches Instrumentarium zu erarbeiten und vorzugeben, das dann in einzelnen Dissertationen bloße Anwendung findet, sondern sie ist darauf ausgerichtet, die Theoriebildung kreativ und in interdisziplinärem Austausch voranzutreiben und damit junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aktiv in das akademische Arbeiten und in gemeinsames Forschen einzubinden.

Exzellenz und Innovation des geplanten Eichstätter Graduiertenkollegs sind eng verwoben mit einer umfassenden Internationalisierungspraxis. Der intensiven Fokussierung an einem kleineren Wissenschafts- und Ausbildungsstandort steht komplementär eine entsprechend groß angelegte Internationalisierungsstrategie zur Seite. Wie aus der Liste der Kooperationspartnerinnen und -partner zu entnehmen ist, können die Kollegiatinnen und Kollegiaten auf ein extensives Netzwerk von bereits aktiven internationalen Kooperationen zurückgreifen und dieses für die eigene Arbeit nutzbar machen.

Dass Orte auf neue Weise zugleich immer relevanter, vieldeutiger, strittiger und brisanter werden, ist ein zentrales Signum der Gegenwart. Eindimensionale Sichtweisen von Globalisierung als Entterritorialisierung und damit verbundene Thesen einer Passivität des Lokalen werden diesen Entwicklungen nicht (mehr) gerecht. Zugleich erscheinen Orte immer weniger schlicht (vor-) gegeben und immer weniger selbstverständlich. Ihre zunehmende Relevanz verweist auf die Prozesse und Praktiken ihrer fortlaufenden Hervorbringung, Um- und Neugestaltung, die sich gerade in der Entselbstverständlichung von Orten zeigen und entschlüsselt werden können. Das Forschungsprogramm des Graduiertenkollegs konzentriert sich auf dieses practicing place, d.h. bspw. auf das Praktizieren, Einüben, Reklamieren, Dekonstruieren, Erfahren, Um- und Neugestalten, Denken, Erkennen, Entwerfen, Fixieren, Kartographieren, Imaginieren, Zuschreiben, Erschreiben und Erlesen von Orten und auf die damit verknüpften kulturellen, sozialen und politischen Wissens- und Bedeutungsproduktionen.

Der Aktualitäts- und Gegenwartsbezug dieser Forschungsperspektive wird durch eine Vielzahl zeitgenössischer politischer, sozialer und kultureller Konflikte unterstrichen. Sie fungieren als aktuelle Schauplätze und zugleich auch als Laboratorien des practicing place, in denen immer auch neue (politische, kulturelle, soziale) Wissensformen hervorgebracht werden. Dazu zählen etwa die Phänomene der ‚Verinselung‘, die seit den 1990er Jahren beobachtet werden, heute aber mit multiplen, konfliktreichen Vernetzungen einhergehen; die Renaissance nationaler Verortungs-Narrative wie auch deren kritische Zurückweisung; die seit dem „Arabischen Frühling“ zu beobachtende Aufwertung von Straßen und Plätzen in digital vernetzten multilokalen politischen Protest- und Widerstandskulturen; die Auseinandersetzungen um Grenzziehungen zwischen Armuts- und Reichtumsregionen; der Aufstieg der global cities zu neuen transnationalen Steuerungszentren; die Defavorisierungen von Weltgegenden oder auch Stadtteilen; die Kämpfe der Migration und die Proliferation von Grenzregimen; die mit urbanen öffentlichen Räumen verbundenen Kontroversen um ‚Sicherheit’ und nicht zuletzt die im postkolonialen Diskurs artikulierten diasporischen Erfahrungen und die von postmigrantischen Initiativen praktizierten und eingeforderten Blickverschiebungen und Neuverortungen der westlichen, Euro-amerikanischen bzw. der weißen Mehrheitsgesellschaften, die sich in vielen Ländern in nationalistischen Bewegungen neu sammeln.

Leitthese unseres Kollegs ist es zum einen, dass der Ort bzw. Verortungspraktiken an Relevanz und Brisanz gewonnen haben und zum anderen, dass Ort und Verortung – worauf deren zeitgenössische Strittigkeit und Entselbstverständlichung selbst bereits hinweisen – nur dynamisch gedacht und konzeptualisiert werden können. Diese Leitthese wirft neues Licht auf das Verhältnis von Ort und Raum, die beide traditionell eher als Gegensatzpaar gedacht wurden. Seit Beginn der neueren Raumforschung (insbesondere bei Bachelard, Lefebvre, Foucault und de Certeau, vgl. dazu Harvey 2000; Löw 2001; Schroer 2006; Soja 2003) wurde regelmäßig eine auf den Menschen bezogene, also lebensweltliche Kategorie, die man – jenseits der sehr divergenten, jeweils vorgeschlagenen Terminologien – mit dem Begriff „Ort“ fassen könnte, einer übergeordneten Ordnungsprojektion, die man als „Raum“ bezeichnen könnte, entgegengestellt. Im Wesentlichen lebte die Raumdiskussion von der Kontrastierung konkreter, praktisch erschlossener und alltäglich gelebter/erfahrbarer Orte mit übergreifenden Modellen bzw. ‚Weltentwürfen‘ von Raum. In Ansätzen zu einer im anglo-amerikanischen Sprachraum entwickelten Philosophie des Ortes (insbesondere Casey 1997; Malpas 1999) wurde dieser Gegensatz fortgeschrieben, indem die Notwendigkeit einer Abgrenzung des Ortes gegenüber dem Raum vor dem Hintergrund der phänomenologischen Diskussion neu unterstrichen wurde; insbesondere in den frühen Arbeiten von Edward Casey wurde von der Notwendigkeit gesprochen, den Ort als bislang vernachlässigte Kategorie der Erfahrung wieder stärker ins Blickfeld zu rücken (siehe z.B. Casey, Getting Back into Place oder The Fate of Place). Die Zentralität von Ort und Verortung beschreibt Edward Casey mit dem inzwischen geradezu kanonisch gewordenen Satz: “To be in the world, to be situated at all, is to be in place” (Getting Back Into Place: Toward a Renewed Understanding of the Place-World, xv). Mehr und mehr zeigt sich allerdings, dass eine solche Gegenüberstellung zu schematisch und starr ist, um der zu beobachtenden Virulenz von Verortungen und den vielschichtigen sozialen, medialen und kulturellen/künstlerischen Praktiken und Möglichkeiten der Herstellung von Orten noch gerecht werden zu können. In jüngeren Beiträgen der Ortsphilosophie kann man bereits Bestrebungen erkennen, die allzu schematische Gegenüberstellung von Ort und Raum zugunsten eines dynamischen und wechselseitig interdependenten Verhältnisses zu ändern. In diesem Sinne konstatiert Casey in einem neueren Beitrag zur Debatte: „It remains that place and space are […] co-constitutive and co-ordinate” (2012, 208).

Für die Untersuchung von practicing place entwickeln wir ein innovatives interdisziplinäres Forschungsprogramm, das sozial-, kultur-, literatur- und kunstwissenschaftliche mit geographischen und philosophischen Perspektiven zusammenführt. Diese spezifische Interdisziplinarität trägt zum einen den Verknüpfungen und unscharfen Mischungsverhältnissen zwischen sozialen, politischen, epistemischen, literarischen und künstlerischen Praktiken Rechnung, durch die das practicing place, das Hervorbringen, Herstellen und Entwerfen, Imaginieren und Kartographieren, Fixieren, Praktizieren, Denken, Erkennen, Kritisieren und Dekonstruieren von Orten gekennzeichnet ist. Zum anderen eröffnet sie einen interdisziplinären Horizont für die Bearbeitung von je fachspezifischen Desideraten, die sich nicht nur aus den je spezifischen disziplinären Forschungsständen, sondern auch aus fachkulturellen Vereinseitigungen ergeben.

So betonen die in den disziplinären Kontexten der Sozialwissenschaften entwickelten praxistheoretischen Perspektiven in Abkehr von mentalistischen Handlungstheorien die Körperlichkeit und die materiellen Verankerungen von Praktiken. Sie vertreten ein kulturanalytisches Programm, das die Relevanz von Sinn-, Wissens- und Verstehensformen unterstreicht und gerade für die Untersuchung von Verortungspraktiken bedeutsam sein kann. Dieses Programm führen sie aber selten über die Analyse impliziter, verkörperter, routinisierter, nichtintentionaler Wissens- und Könnensformen hinaus. Mit der Ausnahme der soziologischen Wissenschaftsforschung werden explizite Denk- und Theorieverfahren kaum praxeologisch untersucht. Es gilt daher, die diskursanalytische und semiotische, sowie die in den „cultural studies“ betriebene Analyse von Wissenspraktiken und -diskursen und ihren epistemischen Konfigurationen (etwa in den Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften, in den Künsten oder auch in den traditionellen Geisteswissenschaften) mit den in der Soziologie entwickelten Praxistheorien und Methodologien ins Gespräch zu bringen.

In den kulturwissenschaftlichen Disziplinen wird die Auseinandersetzung mit den Praxistheorien in jüngster Zeit zunehmend gesucht. Sie finden hier als Korrektiv einseitiger Auffassungen von „Kultur als Text“ oder von Bildtheorien Beachtung, die in visuellen Medien einseitig Präsenzeffekte gegenüber ästhetischen Praktiken und Wirkungen in den Vordergrund stellen. So gibt es in der Literaturwissenschaft entsprechende Versuche, praxeologische Ansätze für das Fach nutzbar zu machen (z.B. Scheiding 2011; Leypoldt 2014). Sie sieht deutlichen Gewinn im Rahmen einer „Textpraxisforschung“ (Scheiding 2011, 196), für die eine gegenseitige Bezugnahme aber noch zu leisten ist. Besonders attraktiv erscheint die mit der praxistheoretischen Perspektive gegebene Möglichkeit, Erkennen, Erfahren, Wahrnehmen, Erschreiben, Erlesen und andere epistemische Verfahren durch Einbeziehen der materiellen, körperlichen und affektiven Dimensionen neu zu verstehen und zu entschlüsseln. Für die Untersuchung epistemischer, künstlerischer oder literarischer Herstellungen und Imaginationen von Orten bietet der angestrebte interdisziplinäre Dialog neue innovative Möglichkeiten, durch die schließlich auch eher auf routinisierte Alltagspraktiken fokussierte sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Verortungen profitieren können.

Für die Untersuchung von practicing place erscheint eine interdisziplinäre Herangehensweise darüber hinaus umso wichtiger, als trotz des zunehmenden Interesses an Raum, Räumlichkeit und Ort die fachübergreifende Kommunikation zu diesen Themen bislang erstaunlich wenig entwickelt ist. Selbst zwischen Disziplinen mit ähnlichen Erkenntnisinteressen, wie etwa der Raumsoziologie und der Sozialgeographie, wird eine gemeinsame Diskussion über Raum- und Ortskonzeptionen allenfalls ansatzweise geführt. Die Profilierung und kritische Auseinandersetzung mit Praktiken der Verortung und ihren epistemischen Konfigurationen im engen Dialog zwischen Sozialwissenschaften und Literatur- und Kulturwissenschaften ist dabei ein zentrales Desiderat aktueller interdisziplinärer Forschung, wie sie durch die besondere Zusammensetzung der Gruppe der im Kolleg tätigen Hochschullehrinnen und -lehrer geleistet werden kann. In dieser Zusammensetzung, die mit der zugleich weit und spezifisch gefassten Forschungsfrage nach den Herausbildungsprozessen und -praktiken von Orten in engem Zusammenhang steht, liegt ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal des geplanten Eichstätter Kollegs. Der Eichstätter Campus mit seinem geisteswissenschaftlichen Fokus eignet sich in besonderer Weise für den Brückenschlag zwischen Sozial-, Literatur- und Kulturwissenschaften – ein Brückenschlag, der gerade in Bezug auf das brisante Thema practicing place noch aussteht. Betrachtet man thematisch verwandte Forschungsprojekte anderer Universitäten, wie z.B. den SFB 1265 „Re-Figuration von Räumen“ mit dem integrierten Modul Graduiertenkolleg (MGK), so fällt auf, dass hier der Schwerpunkt auf der Kooperation zwischen Ingenieur- und Sozialwissenschaften liegt. Literatur- und Kulturwissenschaften sind hingegen kaum in die Forschungs- und Ausbildungsarbeit integriert. Der Ausarbeitung unseres im Folgenden detailliert erläuterten Forschungsprogramms liegt die Erfahrung zugrunde, dass die unterschiedlichen Sichtweisen der am Kolleg beteiligten Fächer und ihrer Wissenschaftskulturen gerade in Bezug auf den gemeinsamen Forschungsgegenstand des practicing place in besonderer Weise produktiv gemacht werden können.

Konzeptionell verbindet das Forschungsprogramm zwei Herangehensweisen, die das komplexe Gefüge von practicing place in den Blick nehmen und in ihrer Komplementarität zum Tragen gebracht werden sollen: Die eine Herangehensweise konzentriert sich auf die Praktiken der Herstellung von Orten und untersucht das practicing place in seinen materiellen, körperlichen, medialen und epistemischen Aspekten. Die andere Herangehensweise nimmt demgegenüber die epistemischen Konfigurationen und situierten Wissensformen in den Blick, die dem practicing place immer bereits zugrunde liegen und die in diesen Praktiken und Bedeutungsproduktionen des practicing place aktualisiert, transformiert und neu artikuliert werden. Konzeptionell haben die beiden Herangehensweisen nicht den Status von Teilbereichen, die in der weiteren Forschungsarbeit des Kollegs dann zu verknüpfen wären, sondern sie zunächst lediglich unterschiedliche disziplinspezifische (d.h. sozialwissenschaftliche und kulturwissenschaftlich-diskursanalytische) Themenstellungen ermutigen, um sie in Bezug auf den immer schon integrierten Forschungs-‚Gegenstand’ – das practicing place, in dem Praktiken, epistemische Konfigurationen und Wissenswirklichkeiten miteinander verknüpft sind – produktiv zusammendenken zu können. Dazu unterscheiden sich beide Herangehensweisen in ihrem jeweiligen analytischen Fokus. Während die erste Herangehensweise an den sozialen, politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Praktiken ansetzt und von hier aus die epistemischen Konfigurationen, Wissens- und Bedeutungsproduktionen erschließt, die mit dem Herstellen von Orten verknüpft sind, konzentriert sich der zweite Zugang zunächst auf (insbesondere) medial und textuell konstituierte epistemische Konfigurationen und Wissenswirklichkeiten und leuchtet diese als wirkmächtige Sinnzuweisungen und Bedeutungsproduktionen eines (z.B. in literarischen Texten, Graphiken, Gemälden und Skulpturen, Illustrationen, Photographien, Reiseberichten, Landkarten, klimatheoretisch grundierten Topologien etc.) sedimentierten und fortlaufend aktualisierten practicing place aus. Die beiden zueinander komplementären Herangehensweisen korrespondieren eng mit den unterschiedlichen originären Sichtweisen und fachkulturellen Gegenstandszuschnitten der am Kolleg beteiligten Disziplinen: soziologische und humangeographische Studien der Hervorbringung, Herstellung (des Reklamierens, Praktizierens, Einübens), Um- und Neugestaltung (des Entwerfens, Fixierens, Kartographierens) von Orten können auf diese Weise mit literatur- und kunstwissenschaftlichen Untersuchungen zusammengeführt werden, die sich auf in Texten und Kunstwerken erschriebene und imaginierte Orte und damit verbundene Wissenswirklichkeiten konzentrieren. Wir gehen davon aus, dass beide Zugänge nicht nur jeweils spezifische Aspekte des practicing place beleuchten, sondern v.a. auch innovative Anregungen für die anderen fachkulturell eingebundenen Perspektivierungen möglich machen werden. So können humangeographische oder soziologische Praxeografien der Herstellung, Aneignung oder der Destruktion von Orten im Kontext sozialer, kommunikativer, ökonomischer oder politischer Prozesse stets auch die epistemischen Aspekte und Konfigurationen herausarbeiten, die mit diesen Praktiken verknüpft sind. Literatur- und kunstwissenschaftliche Untersuchungen der epistemischen Konfigurationen bildlicher oder textueller Verortungsnarrative können einen wichtigen Beitrag für das Verständnis der Stabilisierung sowie der Erschütterung von mit dem practicing place verknüpften kulturellen Sinngefügen leisten. Gerade die komplementären Zugänge sollen dabei durch die gemeinsame Herausarbeitung der Verwobenheit der verschiedenen Elemente von practicing place neue Ansatzpunkte für deren Konzeptualisierung und Untersuchung erschließen helfen. Im Folgenden werden die beiden skizzierten Forschungszugänge zunächst im Hinblick auf den Forschungsstand jeweils detailliert erläutert. Im Anschluss wird dann veranschaulicht, wie diese Zugänge in der Bearbeitung möglicher Dissertationsthemen aufeinander bezogen und produktiv gemacht werden können.

Der Grundansatz des Forschungsprogramms bezieht sich auf den turn to practice (Schatzki et al. 2001, Reckwitz 2003), der sich in der (Sozial-)Philosophie und in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit ca. 15 Jahren als neue theoretische und analytische Denkrichtung etabliert hat. Gemeinhin als Praxistheorie oder praxeologische Perspektive bezeichnet, eröffnet diese Denkrichtung neue Möglichkeiten, nicht nur alltägliche Aktivitäten, sondern auch spezialisierte (künstlerische, literarische, planerische, wissenschaftliche etc.) Tätigkeiten in ihren situierten, materiellen, körperlichen und affektiven Dimensionen zu verstehen und zu beschreiben.

Praxistheoretische Ansätze bilden eine heterogene Strömung familienähnlicher Perspektiven und Vokabulare. Sie eignen sich gerade deshalb in ihrer „theoretischen Vielfältigkeit als fruchtbarer Ideenpol“ (Reckwitz 2003, 289). Bei aller Heterogenität ist diesen Ansätzen gemeinsam, dass sie im Gegensatz zu traditionellen Handlungserklärungen „nicht Ideen, Werte, Normen, Kommunikation, Zeichen- und Symbolsysteme“ in den Mittelpunkt der Analyse rücken, sondern „soziale Praktiken in ihrer Situiertheit, ihrer materiellen Verankerung in Körpern und Artefakten sowie in Abhängigkeit von praktischem Können und implizitem Wissen“ (R. Schmidt 2012: 24). Entsprechend wird in der praxeologischen Sozialtheorie im Unterschied zu konventionellen Handlungstheorien soziales Handeln nicht als punktuelle Einzelaktivität mit ‚dahinter liegenden’ Interessen, Motiven, Zwecksetzungen, Werten oder Normen verstanden, sondern als Verkettung von sich reproduzierenden und aktualisierenden doings and sayings (Schatzki), die materiell und körperlich verankert und sozial verstehbar sind, weil sie von je spezifischen Formen gemeinsam geteilten praktischen impliziten Wissens zusammengehalten werden. Praxistheorien unterlaufen damit dualistische Gegenüberstellungen von Handlung und Struktur, Akteur und Institution, Individuum und Gesellschaft. Sie beschreiben soziale Praktiken als in sinnhaften Vollzügen hervorgebrachte beobachtbare Regelmäßigkeiten, die weder einer isolierten Akteurs- noch einer Institutionenseite zugeordnet werden können (vgl. dazu grundlegend Reckwitz 2004, Rüb 2009, Schatzki 1996, 2002, R. Schmidt 2012). Zu den z.T. kontrovers geführten Debatten um praxistheoretische Zugänge werden darüber hinaus aber auch Fragen nach der Mitwirkung von Dingen und Artefakten an praktischen Vollzügen (vgl. Reckwitz 2002), nach der Reflexivität von Praktiken und ihrem Verhältnis zu Routine und Habitualisierung (R. Schmidt 2017) sowie nach der Sinnhaftigkeit von Praktiken, dem Verhältnis von Praktiken, Wissensordnungen und Wissensformen und nach dem Status des Subjektes in Praktiken (Alkemeyer 2013) verhandelt. Diese letzten beiden Fragen werden häufig mit einer produktiven und kritischen Bezugnahme auf sozialphänomenologische Positionen verknüpft, wie sie in Soziologie und Sozialtheorie insbesondere im Kontext der Wissenssoziologie und des Sozialkonstruktivismus vertreten werden (Knoblauch 2017). Und nicht zuletzt spielen in der aktuellen Forschungsdiskussion auch der Aspekt der Situationalität und Verortetheit praktischer Vollzugswirklichkeiten und ihren transsituativen Bezügen, Einbettungen und Verkettungen (Hirschauer 2014) eine entscheidende Rolle.

In praxistheoretischer Perspektive können Verortetheit und Verortung zunächst als grundlegende Kennzeichen aller praktischen Vollzüge und Vollzugswirklichkeiten aufgefasst und sichtbar gemacht werden. Praktiken vollziehen sich niemals „atopos, ortlos, wie Platon von Sokrates sagte, oder ‚bindungs- und wurzellos’, wie der manchmal als einer der Begründer der Intellektuellensoziologie geltende Karl Mannheim ein wenig leichthin behauptet“ (Bourdieu 2001: 168). Das praxeologische Projekt einer „analysis situs“ (ebd.) ist darauf ausgerichtet, gegen intellektualistische, scholastische oder universalistische Selbstmissverständnisse die topoi, Plätze, Orte, d.h. die körperlichen, materiell-physischen und zugleich sozialräumlichen Lokalitäten und Lokalisierungen herauszuarbeiten, die zugleich als Voraussetzungen und als fortlaufend hervorgebrachte Resultate praktischer Vollzüge verstanden werden. Diese Situiertheit und Lokalität kennzeichnet nicht nur routinisierte soziale Alltagspraktiken, sondern gerade auch theoretische, wissenschaftliche, literarische oder künstlerische Praktiken gleichermaßen. Ihre Erschließung bildet jedoch noch weitgehend ein Desiderat, zu dem bisher erst einige Ansätze vorliegen, die z.B. textuelle, theoretische oder literarische Praktiken als lokalisierte und lokalisierende‚ „gegenständliche Tätigkeiten“ (Marx, Thesen über Feuerbach 5) in den Blick nehmen (Zembylas 2014, R. Schmidt 2016). Für die Literatur- und Kulturwissenschaften schließen sich hier die seit einigen Jahren betriebenen material culture studies an, die insbesondere für die Literaturanalyse eine Hinwendung zu den materiellen Ausprägungen und Aspekten von Texten und Textproduktion einleiten und insgesamt gesehen eine Neuorientierung der Literaturgeschichte an Materialitäten, von Geräten, Werkzeugen, Gebäuden bis hin zu Kleidung, Schmuck u.v.m. (vgl. Scheiding 170) bedeuten.

Mit unserem Forschungsprogramm bearbeiten wir das skizzierte Desiderat. Dazu fassen wir den allgemeinen und konstitutiven Aspekt der Lokalität, der Situiertheit jeglicher Praxis spezifischer und fokussieren konkrete Ortsproduktionen und die damit verknüpften kulturellen, sozialen und politischen Wissens- und Bedeutungsproduktionen in sozialen, kulturellen, politischen, geographischen, literarischen und künstlerischen Gegenstandsbereichen. Die mit dem praxeologischen Grundansatz verknüpfte Forschungsperspektive besteht also darin, Orte nicht allein als Positionen und Bezugsgrößen individueller Erfahrung, Sinnzuweisung und zeichenhafter Kommunikation aufzufassen, sondern als dynamische Faktoren fortlaufender, vielschichtiger kultureller und sozialer Praktiken. Diese prozessuale Perspektive ersetzt die ontologische Frage ‚Was ist ein Ort?’ durch die Frage ‚Wie wird ein Ort fortlaufend entworfen, hervorgebracht und hergestellt?’ Damit lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die Prozesse seiner Erzeugung und Transformation und leitet in einen performativen Untersuchungsansatz des körperlich und material verankerten situativen doing und undoing über (dazu grundlegend Hirschauer et al. 2017), d.h. sie schließt das Herstellen sowie das Zunichtemachen von Orten ein. Praktiken der Herausbildung von Orten können auf diese Weise als vielfältige und immer auch projektive, imaginative und fiktionale Versuche gelesen werden, unter den Bedingungen ultimativer Ungründbarkeit stets aufs Neue Gründe und Fundamente zu finden, Positionen zu formulieren, Standpunkte zu beziehen und Orte zu reklamieren. Im Schnittpunkt von praxeologischen und poststrukturalistischen Perspektiven (vgl. dazu Moebius/Reckwitz 2008) lassen sich Orte dann nicht länger schlicht als Realien, sondern als Prozesse, d.h. als Voraussetzungen und Resultate einer Proliferation ‚unheimlicher’ Realobjekte verstehen und beschreiben, die dem „ontologischen Strittigkeitscharakter des Sozialen“ (Marchart 2013: 31) unterliegen und von ihm angetrieben werden.

Die praxistheoretische Perspektive auf die Herstellung von Orten versucht in der Überwindung mentalistischer Sichtweisen und Verkürzungen die immer auch körperlichen Aspekte des practicing place in den Mittelpunkt zu rücken. Mit der Fokussierung der spezifischen Kompetenz- und Aktivitätsmodi in Praktiken eingebundener und zu je spezifischen Praktiken fähiger „skilled bodies“ (Schatzki 2001: 3) wird die verbreitete Gegenüberstellung von Denken und Tun zurückgewiesen. Damit kommen vorsprachliche Könnens- und Erkennensformen und im Zusammenkommen und Zusammenspiel von Körpern beobachtbare Koordinations-, Orientierungs- und Abstimmungsfähigkeiten in den Blick. Davon ausgehend können z.B. Hervorbringungen von Orten im Kontext politischer Protestereignisse als expressive Körperpolitiken der Versammlung (vgl. Butler 2016) beschrieben werden. Die Perspektivierung des practicing place geht zugleich mit einer geschärften Aufmerksamkeit für die materielle Dimension dieser Praktiken und Prozesse einher und interessiert sich besonders für die inter-objektiven (Latour 2001) Relationen. Sie untersucht die sozialen, kulturellen und politischen Gebrauchsgewährleistungen (affordances) materiell-physischer Gegebenheiten und fragt, wie Objekte und Artefakte in der praktischen Herstellung von Orten kompetent eingesetzt werden und die materiellen Voraussetzungen dafür schaffen, dass bestimmte Praktiken entstehen und vollzogen werden können. Darüber hinaus kann die Untersuchung der inter-objektiven Relationen aber auch zu der Einsicht führen, dass bestimmte Objekte und Artefakte in Verortungspraktiken vorkommen, weil sie in Narrationen beschrieben, aufgerufen und zueinander in Beziehung gesetzt werden.

In unserer bisherigen Zusammenarbeit ist deutlich geworden, dass sich unsere praxeologische Frage nach dem ‚Wie’ von Orten besonders produktiv erweist, weil sie die Überwindung traditioneller disziplinärer Arbeitsteilungen und Gegenstandszuschnitte nötig und möglich macht und innovative interdisziplinäre Untersuchungen anleiten kann: Mit der Frage nach dem Wie werden nämlich fachkulturell tradierte konzeptionelle Vorabunterscheidungen zwischen den materiell-physischen und den symbolisch-semiotischen Dimensionen von practicing place unterlaufen. An der Frage ‚Wie ist ein Ort?’ orientierte Untersuchungen sind stattdessen in besonderer Weise für die Assemblagen von physisch-materialen, symbolischen und metaphorischen Praktikenbestandteilen sensibilisiert und versuchen, solche Assoziationen und Kombinationen an unterschiedlichen Phänomenen des practicing place detailliert nachzuzeichnen. Die humangeographische Einsicht, dass imaginierte Geographien machtvolle Instrumente zur Umgestaltung physisch-materieller Orte werden können (Döring 2019), verdeutlicht die Gegenstandsangemessenheit dieser analytischen Sensibilität.

Die Untersuchung der verschiedenen Herstellungspraktiken von Orten eröffnet neuartige Perspektiven auf die in diese Praktiken, Wissensformen und Wissensordnungen zugleich eingebundenen und sich durch sie verwirklichenden Subjekte. Unser Ansatz geht dabei nicht von einem – als vorgängig gedachten – Einzelsubjekt und seinen Verortungen aus. Im Anschluss an Konzeptionen des Pragmatismus (Dewey 1995) und an Wittgensteins Konzept der Lebensformen, das in der aktuellen biopolitischen Debatte aufgenommen und erweitert wird (Agamben; Fassin) setzen wir vielmehr an übersubjektiven, in der Lebenspraxis gemeinsam geteilten Erfahrungen an. Dieser Zugang bezieht zudem eine jüngere philosophische Debatte mit ein, die sich um eine Dezentrierung des Subjektes bemüht und Individuum/Person/Subjekt (dazu: Schatzki 1996) gemäß unterschiedlicher Figurationen der Teilhabe konzipiert (Zima [2000] 2010). Betrachtet man practicing place auf diese Weise, dann müssen diese Praktiken und Prozesse immer auch unter Berücksichtigung von Erfahrungsgewohnheiten und deren körperlich-materieller Situiertheit in den Blick genommen werden. Zugleich wird dann angenommen, dass die praktische und projektive Herausbildung und Verwirklichung von Subjekten und (über-)subjektiven Erfahrungen stets mit sich dynamisch wandelnden Verortungspraktiken verbunden ist. Vor diesem Hintergrund können Positionen der Phänomenologie ebenso wie die einer diskurstheoretisch orientierten Subjektphilosophie einer kritischen Revision unterzogen werden. Subjekte gehen gleichsam als Knotenpunkte aus vielfältig vernetzten Gemeinschaften und ihrer sozialen, kulturellen und kommunikativen Praktiken hervor. Sie finden sich hier zugleich passiv als immer schon kommunikativ situiert vor und sie verorten sich hier fortlaufend aktiv und variantenreich stets aufs Neue selbst. Ein Beispiel hierfür bietet die neue künstlerische Kartographie, in der Künstlerinnen, Künstler, Medienwissenschaftlerinnen und Medienwissenschaftler auf der Basis von Datensammlungen zur Smartphone-Nutzung neue, auf den Aktivitäten der Mediennutzer basierende Karten von Orten erstellen (vgl. z. B. das „On Broadway“-Projekt von Lev Manovich und Moritz Stefaner).

Die sozialen, kulturellen, politischen, imaginativen, medialen und ästhetischen Herstellungspraktiken von Orten aktualisieren und (re-)artikulieren nicht nur implizites (praktisches) Wissen, sondern auch (z.B. in den Medien Text und Bild) explizierte Wissensformen, Wissensordnungen und Wissenswirklichkeiten. Mit der Idee, (Verortungs-)Praktiken immer auch in der Dynamik ihrer epistemischen Konfigurationen in entsprechenden Herangehensweisen zu erschließen, geht der vorliegende Ansatz über die Analyse topologisch-geographischen Wissens ebenso hinaus, wie über die Untersuchung historisch und soziokulturell konfigurierter Räume, wie sie in der klassischen Raumforschung geleistet wurde.

Der Begriff der Episteme ist dabei nicht klassisch-aristotelisch zu verstehen. Gemeint ist vielmehr handlungsleitendes und durch historische und zeithistorische Erfahrung bestätigtes praktisch relevantes Wissen, das ungeachtet des Bewusstseins seiner ständigen Revisionsbedürftigkeit und Erneuerung für eine jeweilige Gegenwart praxisleitende Akzeptanz beanspruchen darf und muss – und dies auch gegenüber interessengeleiteten Infragestellungen (s. z.B. Brandom 2002; Stekeler-Weithöfer 2010). Daher werden Verortungen in dieser Perspektive nicht nur als Gegenstände des Wissens, sondern als Praktiken betrachtet, die mit dem Aufbau von handlungsorientierendem und -befähigendem Wissen (Reckwitz 2003: 289) grundsätzlich einhergehen. In der Praxistheorie werden solche Wissensformen unter Bezeichnungen wie tacit knowledge (Michael Polanyi), knowing how (Gilbert Ryle) oder sens pratique (Pierre Bourdieu) geführt. Als background knowledge (John Dewey) strukturieren sie einerseits die Organisation von Praktiken und Wirklichkeiten sozialer Gruppen und werden durch diese andererseits zugleich auch selbst objektiviert (Dewey 2001). Praxis und Wissen sind hier eng miteinander verwoben. Wie Reckwitz deutlich macht, schaffen soziale Akteure beim Vollzug einer Praktik eine „Sinnwelt“, in die implizite soziale Kriterien eingehen, mit deren Hilfe Gegenständen und Personen eine „implizit gewusste Bedeutung“ zugewiesen wird (Reckwitz 2003: 292). Praktiken der Verortung sind insofern stets in epistemische Konfigurationen eingebunden, die Wissenswirklichkeiten konstituieren. Mit sozialen Praktiken inhärent verbunden sind also jeweils spezifische Wissens-, Könnens- und Sinnmuster (Hillebrandt 2014: 87ff; R. Schmidt 2012: 28-71), die für die Herausbildung sozial geteilter „Praktiken-Komplexe“ in unterschiedlichen „sozialen Feldern“ und „Lebensformen“ verantwortlich sind (Reckwitz 2003: 295).

Der enge Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen (Wissens-)Praktiken, ihren Verkörperungen, Lokalitäten und Lokalisierungen wurde in der feministischen Wissenschaftstheorie schon früh in einer an die praxistheoretischen Vokabulare anschließbaren Weise untersucht und theoretisiert. Dabei kommt dem von Donna Haraway geprägten und bis heute einflussreichen kritischen Begriff der situated knowledges (1988) eine Schlüsselstellung zu. Vorstellungen entkörperlichten und ortlosen wissenschaftlichen Wissens sowie dessen Objektivitäts- und Wahrheitsansprüche lassen sich mit Bezug auf diesen Begriff dekonstruieren; der für solche Wissensformen charakteristische „conquering gaze from nowhere“ (Haraway 581) kann seinerseits – insbesondere hinsichtlich seiner kulturellen und geschlechtsspezifischen Partikularität und Dominanz – kritisch situiert und verortet werden. Es geht also darum, wissenschaftliches Wissen als spezifisches, selbstmissverständliches situated knowledge auszuweisen, sowie um eine kritische (Rück-)Verortung dieses illusionären „nowhere“ und um ein Markieren des unmarkierten „self-satiated eye of the master subject“ (ebd.: 586). In dieser Perspektive wird u.a. deutlich, wie die Illusion eines ungebundenen und unbegrenzten wissenschaftlichen Nah- und Fern-Sehens durch Technologien und Apparaturen des Sichtbarmachens (Weltraumteleskope, Elektronenmikroskope etc.) und durch entsprechende epistemische Praktiken gestützt und vermittelt wird. Der Begriff der situated knowledges eröffnet kritische analytische Perspektiven auf die visuellen, theoretischen, literarischen, textuellen und wissenschaftlichen Produktionsapparate, epistemischen Anordnungen und Konfigurationen; – er wird in der Forschungsarbeit des Kollegs eine wichtige Rolle spielen. „Location“ (Haraway: 588) kann in solchen Analysen als zentraler Bezugspunkt einer – von Haraway eingeforderten – engagierten Kritik an der Autorität wissenschaftlicher Wissensformen und Wissensansprüche fungieren, die sich unlokalisierbar zu machen versuchen.

Haraways Kritik macht deutlich, dass Wahrnehmungsformen, Sichtweisen und Wissensbestände spezifisch konfiguriert sind. Davon ausgehend bezeichnen „Konfigurationen“ in unserem Forschungsprogramm sowohl materielle Produktionsapparate als auch die Anordnungsweise von Narrativen oder das Zusammenwirken von Dispositiven und die gestalthaft-synchronische Gruppierung diachronischer Wahrnehmungsprozesse in jenen Formen visueller Imagination, wie sie etwa durch Bildmedien vermittelt sind (vgl. Zimmermann 2016). Gerade mythische Narrative spielen in den Konfliktszenarios der globalen Verortung eine große Rolle. Ihr Aufbau ebenso wie die Kritik daran prägen Künste und Literaturen in besonderem Maße. Während seit langem erfolglos darum gerungen wird, einen Identifikations-Mythos zur Europäischen Union und ihren politischen Idealen bzw. Ideologien zu begründen und in zwischenstaatlichen Ritualen zu ästhetisieren, erfahren nationale Mythen eine noch vor wenigen Jahren undenkbare Renaissance. Erfolgreicher als die affirmative Konstitution mythischer Verortungs-Narrative (Sowjetunion, Jugoslawien, EU) ist derzeit der Aufbau kultureller, transnationaler Verortungen unter Stichworten wie ‚globaler Süden‘, ‚Mediterranea‘, der so genannten ‚frontera‘-Region im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko oder aber des historisch komplexen Diasporazusammenhangs des ‚Black Atlantic‘. Auch derartige, historische ebenso wie gegenwärtige Mythenbildungen werden exemplarisch Gegenstand der Forschungsarbeit des Kollegs sein (vgl. Auswahl der möglichen Dissertationsthemen am Ende dieses Kapitels).

Im Blick auf derartig verstandene epistemische Konfigurationen ist es möglich, den Fokus auf die praktische Verortung von Wissensformationen zu richten, die ihrerseits erst epistemische Konfigurationen mobilisieren und die Orte konstituieren, in denen verortete Praxis dann ihren Halt findet. Auch diese Konzeptualisierung stellt somit letztlich die traditionelle Vorstellung von Subjekt-Konstitution angesichts der Wirklichkeit multipler, heterogener Verortungen in Frage, die vor diesem Hintergrund nicht mehr als Ausgangspunkt, sondern als Ergebnis vielfältiger differenzieller, kultureller und sozialer Praktiken erscheint. Der Ort wird in der integrativen Betrachtung von Praktiken und epistemischen Konfigurationen insofern als (materiell, technologisch, diskursiv, medial etc.) vorstrukturierter, individueller ebenso wie sozialer Erlebnis- und Erfahrungsraum sichtbar, der durch die Aneignung jeweils neuer Akteure (Apparate, Technologien, Infrastrukturen, Dispositive, Diskurse etc.) in vielfacher Weise verändert und dynamisiert wird. Orte werden so einerseits als Gegenstand des Wissens betrachtet, andererseits ist Wissen immer mit Praktiken der Verortung verbunden und daher veränderbar und situativ. In den soziokulturell geteilten Vorstellungen imaginärer Geographien (Gregory 1994) sind einerseits diejenigen Wissensstände gespeichert, die habitualisierten Praktiken sowie stabilisierten, routinisierten, regelmäßigen und regelgeleiteten materiell verankerten Wirklichkeiten und Lebensformen zugrunde liegen. Andererseits ist Wissen stets auch an Topologien gebunden. In der Antike und der Renaissance waren Modelle, das Wissen in bildhaften Räumen oder utopischen „Palästen“ zu verorten, eine wichtige Methode der Erinnerungstechnik. Seit den Anfängen der Neurophysiologie im 19. Jahrhundert (Helmholtz, vgl. dazu Crary 1992, 1999; Zimmermann 2018) und deren philosophischer Reflexion bis hinein ins 20. Jahrhundert bei Mach, Bergson und in der Gestaltpsychologie (vgl. dazu Barbara et al. 2011; Brain 2015; Bredekamp/Krois 2011; Noë 2004;) ist bekannt, dass ein wahrnehmendes Subjekt stets nur nachgeordnet neue Perzepte realisiert, und zuvor versucht seine Wahrnehmungen an vorher bestehendes, kulturell vermitteltes Orientierungswissen anzuschließen um Widersprüche zwischen beidem aufzulösen. Erst wenn dies nicht gelingt, sind Individuen ggf. bereit, ihr Orientierungswissen in Frage zu stellen (James 1994: 30). Die ebenfalls schon auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Reflexologie (einführend: Lück 1991/2009, 130ff., sowie Föhringer 2007) macht mit dem Gedanken vertraut, dass Handlungen durch Orte ausgelöst („getriggert“) werden, dass praktisches Handlungswissen und seine Habitualisierung auf als stabil konzeptionalisierte Verortungen als Handlungsrahmen angewiesen sind.

Wie schwierig es ist, gerade bislang unbekannten verorteten Wissenswirklichkeiten auf die Spur zu kommen, lässt sich anhand der von Hans-Jörg Rheinberger entworfenen historischen Epistemologie (2001; 2007) plastisch veranschaulichen, die aktuell bspw. in der Kunstgeschichte intensiv diskutiert wird. Rheinberger entwickelt hier eine Idee von Epistemologie als einer Art Experimentalsystem, in dem die Apparate und Dispositive (so man sich diesen Terminus von Foucault entlehnen mag) des Experiments als sedimentierte und zusammengeballte soziale und diskursive Praktiken verstanden werden können. In ihnen ist das in experimenteller Praxis entstandene und verbundene Wissen wirksam, das wiederum zukünftige Praktiken sowohl ermöglicht wie auch begrenzt (Reckwitz 2003: 284). Da die Apparate und Dispositive und damit das in ihnen sedimentierte und zusammengeballte Wissen den Versuchsaufbau prägen, wiederholen sich in den meisten Experimenten nur Vorgänge, die bereits bekannt sind. Die Herausforderung in der Forschung besteht daher darin, Versuchsanordnungen so zu gestalten, dass nicht nur alt bekannte, sondern neue, bislang unvorhersehbare Ereignisse offenbar werden. Ziel des Experimentes ist es jedoch nicht nur, die Voraussetzung für den unwahrscheinlichen Eintritt bislang unbekannter Ereigniszusammenhänge zu schaffen, sondern diese durch Dispositive zugleich beobachtbar zu machen. Laut Rheinberger ergibt sich neues Wissen dabei regelmäßig dadurch, dass verschiedene Experimentalsysteme miteinander verbunden werden und Vorgänge, die in einem Dispositiv nicht beobachtbar oder unverständlich bleiben, in einem anderen sichtbar und in ihrer Regelhaftigkeit erschließbar werden.

Die Analyse der in Verortungsprozessen eingebetteten epistemischen Konfigurationen sensibilisiert dafür, etablierte Experimentalsysteme aufzubrechen und neu miteinander zu verbinden, um neue Erkenntnisse über Verortungsprozesse überhaupt sichtbar machen zu können. Die epistemologischen Überlegungen Rheinbergers sind insofern grundlegend für den interdisziplinären Aufbau des Kollegs. Inwiefern eine interdisziplinäre Betrachtungsweise in besonderem Maße fruchtbar für die Untersuchung von Verortungsprozessen gemacht werden kann, lässt sich verdeutlichen, wenn man epistemische Konfigurationen in Form von verortetem Wissen analog zu Rheinbergers Experimentalsystem ebenfalls als Sedimentierung und Zusammenballung sozialer und diskursiver Praktiken denkt.

Historisches Verortungswissen (Halbwachs 1967; Assmann 2006) lässt sich dementsprechend als sedimentiert denken in Landkarten, Atlanten, Reiseberichten, klimatisch abgeleiteten oder auch anders grundierten Topologien. Diese Dispositive beeinflussen die experimentelle Aneignung der Welt durch immer neue Akteure. Da die in diesen Dispositiven aufgehobenen Episteme zu ihrer eigenen Reproduktion neigen, führt diese Aneignung tendenziell zu einer Erneuerung historischer Orts-Episteme. In Bezug auf Verortungspraktiken bleibt das Ergebnis jedoch unberechenbar und offen. Reckwitz (2003: 295) hat bereits darauf hingewiesen, dass sich die Unberechenbarkeit „der ‚Logik der Praxis‘“ auch durch „Überschneidung und Übereinanderschichtung verschiedener Wissensformen“ erklärt. Zu Neuerungen in Verortungsprozessen kommt es daher nicht nur, indem epistemische Konfigurationen unterschiedlicher Akteure aufeinandertreffen, sondern auch dadurch, dass einzelne Akteure in sich verschiedene Episteme tragen und diese immer wieder neu konfigurieren. Dies bedeutet jedoch noch nicht, dass sich die neu formierten epistemischen Konfigurationen auch sozial durchsetzen. Neu in die bereits verortete Welt eintretende, migrierende Episteme könnten zwar zur Rekonfiguration und zur Neuverortung gewandelter Praktiken führen, bleiben aber situiert und müssen deshalb einerseits genauso an gesellschaftlich etablierte Praktiken anschließen, wie anderseits zugleich Brücken bauen zu neuen Modi der Beobachtung, indem sie an neue Experimentalsysteme anknüpfen. Die innovative und meist auch konfliktreiche Durchsetzung epistemischer Rekonfiguration des Wissens durch neue Experimentalkulturen im Rahmen neuer kultureller oder medialer Praktiken kann dann zur Umstrukturierung früherer Topographieren und (imaginärer) Geographien der Sichtbarkeit führen.

Wie die postkonstruktivistische Wissenschaftssoziologie in ihren empirischen Analysen darlegt, bestimmen epistemische Konfigurationen, d.h. Anordnungen und Bündel verschiedenartiger Praktiken, Artefakte, Maschinerien, Apparaturen, Instrumente, Dispositive, Diskurse, Konventionen und Einrichtungen, in ihrem Zusammenwirken in einem Wissensgebiet, „wie wir wissen, was wir wissen“ (Knorr-Cetina 2002:11). Demnach bilden sich epistemische Kulturen und – in einem weiteren Sinne – Wissenskulturen auf der Grundlage solcher sozio-materiellen Arrangements. Knorr-Cetina weist darauf hin, dass sozio-materielle Arrangements, die der Erzeugung von Wissen dienen, im Zuge der Entwicklung von westlichen Gesellschaften zu Wissensgesellschaften in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eindringen. Dabei erhält auch die Strukturform des Labors eine immer breitere Relevanz. Knorr-Cetina beschreibt das Labor nicht lediglich als den physischen Ort, an dem Experimente durchgeführt werden, sondern als eine separierte, lokalisierte und rekonfigurierte emergente Ordnung und epistemische Konfiguration, die verschiedene soziale Akteure und Gruppen, Register, Klassifikationsformen und Objekte zusammenführt und kontinuierlich präsent hält, um Ereignisse und Wissensformen hervorzubringen. Im Rahmen unseres Forschungsprogramms lassen sich diese Thesen auf den zu beobachteten Relevanzgewinn der Orte beziehen und in spezifischer Weise produktiv machen. Orte lassen sich dann nämlich als hergestellte Gefüge und Versuchsanordnungen der Wissenserzeugung beschreiben, durch die immer auch Erkenntnis konstruiert wird. Solche hergestellten Orte können ihre „epistemische Wirksamkeit“ aus „den Differenzen schöpfen, die sie zu ihrer Umwelt implementieren.“ (ebd.: 65). Sie wären dann immer auch als Einrichtungen und Instrumente einer experimentellen gesellschaftlichen Praxis interpretierbar, die nicht zuletzt auch epistemischen Gewinn erbringt. Knorr-Cetinas These, dass Labore auch migrieren können (ebd.: 25), impliziert umgekehrt auch, dass Orte laboratisiert, d.h. zu Laboren werden können, indem ihre ‚eingesessenen’, physischen und sozialen Ordnungen und ihre Relationen zueinander entsprechend rekonfiguriert werden. Davon ausgehend lassen sich dann die aktuellen Entselbstverständlichungen von Orten und ihre zunehmende Relevanz und Brisanz dahingehend interpretieren, dass (z.B. im Zuge zunehmender globaler Interdependenzen, der Proliferation von Grenzen und Grenzregimen, des de- und rebordering aber auch in der Aneignung von Straßen und Plätzen im Rahmen politischer Protestereignisse) entsprechende Labore des practicing place eingerichtet werden. Diese aus der Wissenschaftssoziologie entlehnte Perspektive sensibilisiert für die experimentellen und epistemischen Aspekte des practicing place: Urbane Plätze rücken in den Rang von Experimentalsystemen und Versuchsanordnungen ein, in denen unvorhersehbare Ereignisse offenbar werden (Revolten ereignen sich eben nicht zufällig auf Straßen und öffentlichen Plätzen), in denen sie sich zeigen und in überraschende performative Praktiken übergehen. Orte werden dann in neuer Weise zu Produktions- und Erzeugungskontexten von sozialem, politischem und kulturellem Wissen.

Die Umwälzung und Transformation epistemischer Konfigurationen sowie die Durchsetzung von Rekonfigurationen sind oft systematisch mit der medialen Neuformation sozialer Gruppen verbunden, sei es durch neue Formen des medialen und kommunikativen Zusammenhalts (wie in den social media), sei es durch generationales, sei es durch migrantisches Wissen, das bestehende Geographien neu in den Blick nimmt und mit Blick auf neuartige oder bislang anders verortete Praktiken umgestaltet. Gerade die Rekonfiguration imaginärer ebenso wie konkreter Verortungen ist daher regelmäßig nicht nur mit neuen historischen Erfahrungen, sondern auch mit Strategien der Aneignung verbunden. Die Neustrukturierung der Episteme der Verortung verläuft dabei meist nicht kontinuierlich, sondern in historischen Sprüngen, weshalb eine historische Perspektive, wie sie in dem Kolleg vor allem von den Literaturwissenschaften und der Kunstgeschichte vertreten werden, in der Untersuchung der (Re)Konfiguration epistemischer Konfigurationen sinnvoll erscheint. Um die Bedingungen, denen eine Reproduktion oder Modifikation von Verortungspraktiken unterliegt, besser zu verstehen, wendet sich das Kolleg theoretischen Vokabularen zu, die eine relationale und prozessuale Sicht auf die Welt vertreten, wie z.B. die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus (bspw. Pierce, James, Dewey, Rorty; vgl. auch Steiner 2014).

Eine interessante, auf ähnliche Weise relationale Neukonzeptualisierung von Verortung, Ortsbezügen und subalternen Subjektivierungen in den Medien Sprache und Schrift kennzeichnet etwa die vom karibischen Philosophen und Schriftsteller Édouard Glissant entworfene Poetik der Relation (1990; engl. 1997). Sie entwickelt neue Ausformulierungen und Imaginationen von transformatorischer Vernetzung, insbesondere aus Sicht des durch historische Gewalt geprägten karibischen Raumes. Glissants Texte, die selbst eine klare Unterscheidung von Belletristik/Poesie und Theorie vereiteln, verweisen dabei auf die zentrale Rolle von Kunst und Literatur für das practicing place in einem durch Migration definierten kulturellen Raum, die multiple Formen von Erinnerung und Ortsbezogenheit hervorbringen und mit dem Vermächtnis der kolonialen „nonhistory“ in einen produktiven epistemologischen Diskurs treten. Der Begriff der Relation in all seinen Praktiken von Erzählen, Zuhören, Verbinden oder Erfahren schafft damit Möglichkeiten zu Um- und Neugestaltungen von Gemeinschaften und bildet einen Schlüssel zu einem entsprechend erweiterten Verständnis der Herstellung von Orten. Glissant ist dabei nur ein, wenn auch markantes und einflussreiches literaturtheoretisches wie auch literaturpraktisches Beispiel für die Aktivität des „poetic place-making“, die für die Literaturwissenschaft im Zentrum des Kollegs stehen wird. Zudem tritt in Glissants Poetik die Rolle, die insbesondere affektive Aspekte für Verortungsprozesse spielen, mit großer Deutlichkeit hervor (vgl. dazu klassisch Tuan, Topophilia 1974). Hier kann die neuere kulturwissenschaftliche Forschung zum Thema Affekt (vgl. z.B. Berlant 2011; Gregg/Seigworth 2010; Massumi 2002) anschließen. Sie wird aufgrund der Bedeutung des Affektiven im practicing place ebenso in die Untersuchungsperspektive des Kollegs integriert.

Die medialen Dimensionen von Verortungen wollen wir in dem geplanten Kolleg in zweierlei Hinsicht in den Blick nehmen. Die erste Sichtweise schließt dabei unmittelbar an unsere praxistheoretische Perspektive an. Denn gerade in kommunikativen und medienvermittelten Praktiken thematisieren Akteure ge- und erlebte Verortungen dann, wenn sie mit anderen Verortungen konfrontiert und so gezwungen werden, ihre eigenen Verortungen in Frage zu stellen. Wie Diskussionen in der Humangeographie zeigen, ziehen die Praktiken sozialer Grenzziehung in Verortungs- und Regionalisierungsprozessen, in denen Orte als soziale Bedeutungszuschreibungen an den Raum durch mediale und diskursive Repräsentationen fixiert werden (z. B. Agnew 2005; Cresswell 2004; Lossau 2002), erhebliche praktische und materielle Konsequenzen nach sich, etwa bei der Fabrikation des öffentlichen Raumes oder in ‚Sicherheits’-Diskursen (z. B. Belina 2005, Ermann 2005, Glasze et al. 2005)

Wie die Betrachtung epistemischer Konfigurationen jedoch zweitens verdeutlich hat, lassen sich multiple mediale Verortungen auch und vor allem als Zusammenballung und Sedimentierung sozialer und diskursiver Praktiken verstehen, die spezifische mit der Praxis verknüpfte mediale Artefakte hervorbringen. Betrachtet man Verortungen in dieser zweiten Hinsicht genauer, werden in ihnen die sozialen Figurationen und epistemischen Konfigurationen deutlich, die zu ihrer spezifischen Art der Sedimentation und Zusammenballung geführt haben und die durch diese auch weiter Wirkung für zukünftige Rekonfigurationen von Verortungen entfalten. Die wachsende Transparenz moderner, kommerzieller Medien, die ihre Vermittlungsleistung vergessen machen, führt dabei regelmäßig dazu, dass gegenüber den imaginierten Orten deren mediale Konstitution in den Hintergrund gerät.

Für die Kunstgeschichte hat Louis Marin den Begriff der Opazität in seiner Diskussion der Malerei des Quattrocento (1989; dt. 2004) für jene Stellen im Bild eingeführt, die im Gegensatz zu Ideen einer perspektivischen Transparenz gerade die Undurchdringlichkeit der Darstellung offen legen. Mittels einer opaken Darstellungsstrategie lassen diese Medien ihre Konstitutionsregel zutage treten und halten sie in der Rezeption bewusst, wodurch freilich ein ‚Abtauchen‘ in die Halluzinationsräume der Fiktion erschwert wird. Hier bestehen Verbindungen zu der von Glissant in anderem Zusammenhang vertretenen Opazitätsthese. Es liegt bereits mehrere Jahrzehnte zurück, dass Édouard Glissant vor einem mehr als erstaunten Publikum seine Forderung nach einem „right to be opaque“ verlautbaren ließ (Diawara 2011, 14; Glissant 1990/engl. 1997, 189-194). Glissant wehrte sich damit gegen die seinerzeit dominante Politik der Differenz und ihre Forderung nach Transparenz, die er in ihrem Absolutheitsanspruch nicht nur für illusorisch, sondern auch für reduktionistisch hielt. Eine Gemeinsamkeit zwischen Marin und Glissant besteht darin, dass beide Transparenzvorstellungen und -illusionen zurückweisen und stattdessen dazu auffordern, die Aufmerksamkeit auf die medialen Konstruktionen und Verortungsstrategien zu richten und deren ‚Blickdichte’ im Verhältnis zum Dargestellten und Präsentierten nicht aus dem Blick zu verlieren. Davon ausgehend ist es ein Anliegen unseres Projektes, allzu transparenten und zudem „naturalisierten“ Geographien des Imaginären ihre Medialität zu restituieren, sie mithin – im Sinne Marins und Glissants – opak zu machen. Die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien zeigen, dass die Praktiken des modernen Denkens ihre eigenen medialen Bedingtheiten immer weniger unterschlagen können. Dabei ist entscheidend, die in der Lebenspraxis geteilten Erfahrungen stets als medial, sei es durch Sprache, sei es durch die Medien von Text und Bild, vermittelte Erfahrungen zu verstehen. Der Begriff der Mediatisierung (Krotz und Hepp 2012, vgl. auch Van Loon 2008; Auslander 1999/2008) deutet nicht nur darauf hin, dass Vergesellschaftung eine große Vielfalt von Vernetzungen zwischen bisher voneinander getrennten Orten impliziert, sondern auch, dass die Wissensformen, durch die diese Verortungen sinnhaft gestaltet bzw. epistemisch konfiguriert werden, als mediale Diskursformationen aufzufassen sind.

In Bezug auf das Medium Text hat der Amerikanist Oliver Scheiding (2011) den Vorschlag gemacht, das Verhältnis von Diskursen und Praktiken genauer in den Blick zu nehmen. Scheiding sieht seinen Beitrag als ersten „Denkanstoß“ (ebd. 196), um das Verhältnis zwischen Diskurs und Praxis weiter fortzuentwickeln, wie es Ziel unserer Arbeit im Kolleg sein wird. Widmet man sich den Praktiken des Schreibens und der Herstellung von Texten (ebd. 179), ist es möglich, „den impliziten Wissensordnung anhand ihrer Texte nahekommen“ (ebd. 192). Der Text rückt dabei in ein Netz von Rezeptions- und Produktionspraktiken und kann so die Arbeit der Literaturwissenschaft nachhaltig beeinflussen, in dem man verstärkt von einer Sichtweise abrückt, die textuelle Formen vor allem als Repräsentationen analysiert, und sich verstärkt der Untersuchung von Positionen und Dispositionen widmet (vgl. 192-193). In diesen Begriffen allein spiegelt sich bereits die Fokussierung auf Verortungen, auf ‚Positionen‘. Interessanterweise betrachtet Scheiding dabei Texte im Sinne von Foucault als „Zwischenräume“ (Scheiding 185), die nicht „das Unsichtbare sichtbar […] machen, sondern […] zeigen, wie unsichtbar die Unsichtbarkeit des Sichtbaren ist“ (Foucault 1991, 52) und erinnert an den Begriff „interdiskursive Konfiguration“, den Foucault in seiner Arbeit zur archäologischen Arbeitspraxis erörtert (1992, 216).

Zudem verdeutlicht die neueste Medienrevolution, die mit einer tiefgreifenden Veränderung der Lebens- und Arbeitswelt einhergeht, dass die Teilnahme ein und desselben Akteurs an ganz unterschiedlichen medialen Netzwerken zu multiplen Formen der Sozialisation führt. Das Subjekt sieht sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, in pluralen medialen und sozialen Figurationen zu agieren. Doch Self-Fashioning, Selbstvermarktungszwänge (Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten 2017) ebenso wie die damit in Zusammenhang stehenden Rückzugsszenarien sind ihrerseits medial vermittelt und mit aus dem Imaginären in reale Interaktionsstrukturen projizierten Verortungen verbunden. In dieser Perspektive geht das Kolleg daher davon aus, dass die projektive Verwirklichung von Subjekten stets mit ihrer kommunikativen Verortung im Medium der Sprache sowie in medialen und ästhetischen Netzwerken einhergeht und diese zugleich voraussetzt. Den sozialen Figurationen hinter diesen medialen Verortungen wird das Kolleg systematisch seine Aufmerksamkeit zuwenden.

Man kann die unterschiedlichen medialen Netzwerke, in denen sich Personen verorten, auch im Sinn verschiedener Reichweiten betrachten: Von Verortungen im Intimen und Privaten zum Oikos und zur Polis, vom Lokalen und Regionalen zu gesamtgesellschaftlichen Strukturen und Institutionen, von den Nationen zu überstaatlichen Verbünden wie der Europäischen Union, von klassen- und milieuspezifischen, kulturellen und religiösen Formationen bis zu einer unter dem Stichwort der Globalisierung als total konzipierten Welt reichen die Horizonte der Verortung einer jeweilig konkreten, kommunikativen Praxis. In diesem Zusammenhang kommen insbesondere sich überlagernde Praktiken der Entgrenzungen und der neuen Grenzziehungen in den Blick. Vielfältige Grenzüberschreitungen haben zur Ausweitung von Horizonten und Möglichkeiten geführt und zugleich neue sozialräumliche Polarisierungen und Grenzziehungen, etwa zwischen Reichtums- und Armutsregionen, eingeleitet. Der Ortsphilosoph (und unser Kooperationspartner) Edward E. Casey hat sich zusammen mit Mary Watkins mit den dynamischen Verortungspraktiken an der US-amerikanisch mexikanischen Grenze beschäftigt. In Up Against the Wall: Re-Imagining the U.S.-Mexico Border (2014) untersuchen beide die vielfältigen künstlerisch-medialen Praktiken, zumeist in kleinen Kollektiven durchgeführt, und veranschaulichen, wie diese Praktiken selbst die Rigidität des besonderen Ortes der Grenze, stets als monolithische Linie bzw. Mauer konzipiert, als Ort gelebter Praxis sichtbar werden lassen und auf diese Weise einer fixierten und ausschließenden Verortung einen gewissen Grad an Fluidität und Permeabilität verleihen können. Die Studie kann die enge Verzahnung von Regionen über nationale Grenzen hinweg aufzeigen und erzählt so ein wichtiges „counter narrative“ zu den aktuell medial propagierten deklamatorischen Ausschlussszenarien. Polarisierungen und Grenzziehungen sind auf eine andere Weise anschaulich im Aufstieg der global cities zu transnationalen Steuerungszentren und Knotenpunkten einer neuen Geografie der Macht, wie sie die Soziologin (und unsere Kooperationspartnerin) Saskia Sassen in mehreren Studien untersucht hat (z.B. 1991; 2007). Die grenzüberschreitenden Re-Figurationen sich überlagernder Räume sind stets an lokale Verortungen rückgekoppelt. Diese Prozesse lassen sich auch als Hervorbringungen des Globalen durch das Lokale beschreiben (vgl. Berking 2006).

Denkt man Verortungspraktiken und ihre epistemischen Konfigurationen in einem medial globalisierten Sinn, wirft das weltweite Machtgefälle, das mit Kolonialismus, Imperialismus und (Neo-)Kapitalismus einhergeht, auch ethisch-politische und ökologische Fragen auf. In einer Zeit, in denen Produktion und Entsorgung in die auch sozial am meisten defavorisierten Weltgegenden („waste lands“) verortet werden, kann auch die privilegierte westliche Welt sich nicht mehr nur in ihren eigenen Lebenswelten verortet sehen. Sie wird – v.a. auch medial vermittelt – zunehmend auf Folgen dieser Externalisierung aufmerksam (siehe hier Lessenich, Neben uns die Sintflut 2016). Uns interessieren diesbezüglich vor allem die medialen Verortungspraktiken und die in diesen Medien erzeugten Darstellungen dieser Ungleichheitsverhältnisse. Der kanadische Photograph Edward Burtynsky hat diese mediatisierten Wissensordnungen in seiner dokumentarischen Praxis zum Ausdruck gebracht. In der Serie Manufactured Landscapes (Buch 2003; Dokumentarfilm dir. Jennifer Baichwal) visualisiert der Photograph Burtynsky nicht nur die Praktiken des menschlichen Handelns vor Ort, die zu diesen „waste lands“ führen, sondern stellt beide mittels seiner ästhetischen Praxis in ein größeres, global gefasstes Wirkungsgeflecht (s. K. Schmidt 2014). Die mediale Thematisierung und Infragestellung von sozialer Ungleichheit und wirtschaftlicher Ausbeutung in einer „uneven world“, wie es der Postkolonialismus-Theoretiker R. Radhakrishnan ausdrückt, rückt Verortungspraktiken und epistemologische Konfigurationen des Postkolonialen mit besonderer Dringlichkeit in das Zentrum wissenschaftlicher Beschäftigung. In seiner Kritik der schwarzen Vernunft (2013; dt. 2017) und anderen Werken hat der Postkolonialismus-Kritiker und Philosoph Achille Mbembe darauf aufmerksam gemacht, dass Kolonisierung nicht als Randphänomen an den Grenzen einer überlegenen Zivilisation gesehen werden kann. Vielmehr erlangten das ‚Abendland‘ und der ‚Westen‘ in dem Maße wissenschaftlich-technische und mediale Überlegenheit, wie sie die Ausbeutung eines globalen Südens vertieften. Aus der Sicht Mbembes ist der „Neger“ – er stellt diesen belasteten Begriff ins Zentrum (insbes. 56-69) und versteht all jene darunter, die Opfer von Rassismus, von Strategien des ‚Othering‘ und von ‚Orientalismus‘ sind – ein angstgetriebenes Phantasma der dominanten europäisch-westlichen (Neo)Kolonialmächte, deren vermeintliche Überlegenheit materiell sowie ideologisch auf dem ausgegrenzten ‚Anderen‘ basiert und damit auf komplexe Weise stärker damit verbunden ist als angenommen. Die afro-amerikanische Nobelpreisträgerin Toni Morrison hat eine analoge Umperspektivierung bereits in ihrer 1992 erschienen, inzwischen klassischen Studie Playing in the Dark: Whiteness and the Literary Imagination entwickelt, in dem sie von einer tief verwurzelten „Africanist presence“ in den kanonisierten Werken der ‚weißen‘ amerikanischen Literatur von Poe, Melville, Cather oder Hemingway spricht und damit eine einschneidende Neubewertung US-amerikanischen Schreibens etabliert. Diese Herausforderung zwingt dazu, nicht nur die Weltgegenden außerhalb der privilegierten Nationen mit den Methoden der Postkolonialismus-Forschung zu betrachten, sondern den postkolonialen Blick auch auf die medialen (Neu-)Formationen der epistemischen Konfigurationen von Europa und der westlichen Welt zu richten. In Anlehnung an Édouard Glissant bemüht sich Mbembe darum, „von Afrika aus ein Denken der Zirkulation und des Durchquerens zu artikulieren“ (Kritik der schwarzen Vernunft 25) und die „Kräftebeziehungen innerhalb der Traditionen“ (ebd.) zu untersuchen, anstatt einer rigiden Aufteilung und Partialisierung der Weltgegenden verhaftet zu bleiben. Auch die Afro-Amerikanistin (und Kooperationsapartnerin) Yogita Goyal vertritt diese wesentliche Neuperspektivierung und entwickelt eine literarisch-kulturelle Re-Lokalisierung der Black Diaspora Studies, indem sie Afrika als konstitutiv für Schwarze Modernität etabliert. Mbembe zählt wie bereits vor ihm die Schriftstellerin und Photographin Taiye Selasi zu den Mitbegründern einer politisch-künstlerischen Strömung, die eine bemerkenswerte Umverortung bereits im Titel trägt: „Afropolitanismus“ (Selasi 2003; s. auch Mbembe z.B. 25; vgl. K. Schmidt 2014) und dabei gerade keine schlichte Umkehrung eines dichotomen Machtverhältnisses im Auge hat, sondern vielmehr eine dynamisch gefasste Verortung im Sinn der Relation (Glissant), die in Praktiken des Schreibens, Arbeitens, Reisens, Erzählens, Entwerfens u.v.m. erforscht werden kann.

Die Tragfähigkeit unseres Ansatzes soll sich nicht zuletzt in der Forschungs- und Ausbildungspraxis im Kolleg widerspiegeln: Auch an der universitären Wirkungsstätte wird eine Neuverortung durch Konstituierung eines Ambientes gelebter Debatte angestrebt – innerhalb der Institution ebenso wie in der externen Vernetzung. Das Kolleg fungiert dabei selber als Laboratorium, in dem alle Kollegiatinnen und Kollegiaten – und dies schließt explizit auch die Gruppe der beteiligten Hochschullehrerinnen und –lehrer mit ein – durch ihre bewusst praktizierten, gestalteten und transformierten Verortungen das Forum experimentell gestalten. Alle Mitglieder des Kollegs sollen demnach zur weiteren Entwicklung und Bearbeitung ihrer Fragestellung im interdisziplinären Dialog angehalten und zur internationalen Kooperation im Rahmen der umfassenden bestehenden Netzwerke ermutigt werden.